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Hirngerechtes Lernen: Es könnte alles ganz einfach sein

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Prof. Dr. Peter Struck referierte in der Rohrmeisterei.

Schwerte. Wie ein Wanderprediger füllte Prof. Peter Struck die Hirne seiner Zuhörer in einem fast dreistündigen Monolog mit auf- und abschwellender Stimme bis zum Überschwappen – ausgerechnet zum Thema „Hirngerechtes Lernen“. Doch die fast 300 Zuhörer in der Rohrmeisterei hatten ihm ihre Hirnkapazitäten sehr bereitwillig zur Verfügung gestellt. Denn: Der Pädagoge und Wissenschaftler Struck hat recht. Gutes Lernen an guten Schulen ist ganz einfach – alle müssen es nur wollen.

Da schadete es auch nicht, dass Peter Struck aus Hamburg sich statistischen Materials bediente, das bis zu 15 Jahre alt war – seine Weisheiten und Erkenntnisse waren weitgehend einleuchtend und immer noch hochaktuell. Es ist wahrlich keine These, sondern für die verantwortungsbewussten Eltern im Saal eine Binsenweisheit: Kinder lernen nur erfolgreich, wenn sie das auch wollen. Sie müssen Lust haben, sich bewegen, ja, sogar ständig Kaugummi kauen. „Nein, Kaugummi kauen ist nicht frech, es ist gesund, der Kopf wird besser durchblutet, die Lernfähigkeit steigt“, gab Struck Erkenntnisse langjähriger Hirnforschung wider.

Kaugummikauen ist gesund

Es ist merkwürdig, dass viele logisch nachvollziehbare Untersuchungsergebnisse partout von der Schulpolitik nicht umgesetzt werden. „Manches kostet ein bisschen Geld, alles aber mindestens guten Willen“, so Struck. Dass Kinder bis zum 5. Lebensjahr den Ordnungssinn schärfen, ihre Lernkultur und solidarisches Benehmen, dann nie mehr wieder – das weiß man längst. Trotzdem gibt es in der Bundesrepublik nur wenige Bundesländer mit guten Vorschulen. Dass Kinder gerade zwischen 8 und 12 Jahren unbedingt feste Bezugspersonen brauchen, ist ein alter Hut. Trotzdem reißt man die Kinder in NRW nach vier Jahren Grundschule aus ihrer vertrauten Lernatmosphäre brutal heraus. Ohne Übergabe. Grundschullehrer kennen in der Regel ihre Kollegen von den weiterführenden Schulen nicht, und umgekehrt.

Der Mensch lernt gut – am Nachmittag

Man weiß, dass Kinder im Grundschulalter und noch bis 14 am besten lernen, wenn sie liegen, sich lümmeln, langsam gehen oder am Stehpult stehen – doch mit 6 haben sie die meiste Zeit des Tages still in ihrer Bank zu hocken. Man weiß, dass der Mensch überhaupt am Nachmittag am besten lernt, trotzdem beginnen alle Schulen frühmorgens um 8 Uhr.

Wenn man im Gegenzug aber auch weiß, dass globale Konzerne wie Henkel, VW, Bosch und viele andere die Unterrichtswissenschaft sponsern und natürlich Vorgaben machen, dann wundert es nicht nur Peter Struck nicht, dass nichts von den wahren wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Realität stattfindet.

Nach Struck ist die Note in Bio oder Geschichte in der Regel völlig irrelevant für den weiteren Lebensweg. Selbstbewusstsein, Teamfähigkeit, Erkundungskompetenz, Konfliktfähigkeit, Toleranz, Flexibilität, vernetzendes Denken – dies steht nirgends auch nur anteilig auf einem Stundenplan.

Die deutsche Schulpädagogik ignoriere völlig, dass Kinder schon früh digitale Medien exzessiv nutzen und ihr Lernvermögen dadurch verändern. Eine emotionale Verarmung werde die Folge ein. Wer als Jugendlicher ein Wochenende lang Ballerspiele hat machen dürfen, ist am Montag komplett bildungsunfähig.

Gebannt lauschten Zuhörerinnen und Zuhörer dem Vortrag.

Gebannt lauschten Zuhörerinnen und Zuhörer dem Vortrag.

Kindern Freiheit gönnen

Die besten Lernerfolge erzielen nachweislich Schulen, die den Kindern ein Höchstmaß an Freiheiten gönnen. Sie dürfen entscheiden, wann sie was lernen. Schüler untereinander unterrichten sich am besten, altersgemischte Klassen oder Lerneinheiten sind ein Segen. Lehrer müssen sich weitgehend raushalten und nur Berichtshefte in regelmäßigem Turnus mit den Kindern besprechen, damit erhöht sich die individuelle Hingabe zu einem Schüler exorbitant.

Lehrer sind gezwungen wie Dompteure im Raubtierkäfig zu arbeiten statt Lernpartner und Problemlöser sein zu dürfen. „Die besten Schulen sind die, an denen das sich das Kollegium einig ist, ständig unerlaubte Dinge ausprobiert, Grenzen überschreitet“, sagt Peter Struck. Lehrerkollegien müssen altersgemischt sein, es brauche Erfahrung genauso wie Innovation. „Und eine Schulleiterin mit Mitte 50, die lässt sich nichts mehr sagen…“ Warum Menschen „aus dem richtigen Leben“ nicht in Schulen an der Entwicklung der Kinder mitarbeiten dürfen, ist nicht nur Struck ein Rätsel. Dass es oft Privatschulen sind, die pädagogisch innovativ aus der Reihe tanzen, liege an deren Regierungsferne, so Struck.

Die dicksten Lehrpläne der Welt

Peter Struck würde auch die Lehrerausbildung völlig umkrempeln: „Lehrer können aus 72 Fächern wählen, aber Fächer wie Elternberatung, Diagnostik- und Therapiekompetenz, sinnvolles Management der Materialien – die gibt es nicht.“ Doch immer noch haben deutsche Bundesländer die dicksten Lehrpläne der Welt. Andere Länder kommen mit Broschüren aus, die deutsche Schulpolitik setzt einsam, aber unbeirrbar auf mehrbändige Kompendien. Und gibt im weltweiten Vergleich erschreckend wenig Geld für Schulen aus.

Am späten Abend ließ Struck sein Zuhörer einigermaßen ratlos zurück. Was können Eltern für ihre Kinder tun? Wie bekommen Eltern Einfluss auf die Schulpolitik, die statt auf wissenschaftliche Erkenntnisse auf partei-ideologische Grundsätze setzt?

Und: Solange Eltern in NRW gegen eine sture grüne Schulministerin Sturm laufen müssen, die gegen alle Ratschläge und Mehrheiten auf G8 setzt – solange werden nordrhein-westfälische Kinder in den Schulen schlecht auf ein wirklich gutes Leben vorbereitet.

Zu dieser Veranstaltung hatten die Stadtschulpflegschaft, die Initiative „dabei“, die GEW und die Initiative „Gemeinsam lernen, gemeinsam leben“ eingeladen. Das Thema Inklusion, das Heike Stube-Rosendahl und Dr. Edith Kirsch von der Initiative Down-Syndrom bei ihrem „Cocktail-Gespräch“ zur Auflockerung sehr kritisch kommentierten („Behinderung ist ein Ausdruck der Vielfältigkeit, aber kein Kostenfaktor“), fand in Peter Strucks Vortrag auch statt. Die Hirnforschung hat längst ermittelt, dass gemischte Klassen durchaus sinnvoll sind, für 95 Prozent der gehandicapten Kinder. „Aber dann müssen wir sechsmal so viel ausgebildete Pädagogen dafür einstellen. Dafür will die Politik kein Geld ausgeben – wieso nicht?“


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