
Die Türkei-Korrespondentin Çiğdem Akyol las aus ihrer Biografie über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Foto: Nadine Przystow
Schwerte. Ob Flüchtlingsabkommen, Wahlkampf oder die Unterdrückung der Meinungsfreiheit – kein anderer Politiker polarisiert zurzeit so stark wie der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Nur die Schwerter lässt das anscheinend kalt. Gerade einmal 20 Besucher kamen auf Einladung der Volkshochschule Schwerte zur Lesung mit der Journalistin Çiğdem Akyol, die eine Biografie über den Mann geschrieben hat, der andere ihrer Zunft hinter Gittern bringt. In der Aula des Friedrich-Bährens-Gymnasiums wirkte die kleine Gemeinschaft etwas verloren.
Als die gebürtige Hernerin Çiğdem Akyol vor dreineinhalb Jahren mit ihren Buch angefangen hatte, ahnte sie noch nicht, welche Aktualität es kurze Zeit später gewinnen würde: „Seit der Säuberungswelle nach dem Putschversuch im Juli 2016 haben wir in der Türkei einen Abwärtstrend, der anhält“, so die Auslandskorrespondentin. Mit dem Islamischen Staat (IS) und der extremistischen Untergrundorganisation PKK wütet der Terror, im Südosten des Landes herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, Zivilisten sterben. Laut Global Peace Idex aus dem Jahr 2015 ist die Türkei auf Platz 135 von 163 der friedlichsten Länder der Welt.
Defekte Demokratie
Erdoğan strebt das Präsidialsystem an, über dessen Einführung am 16. April abgestimmt werden soll – auch in Deutschland. Von den 3,5 Millionen Deutschtürken sind 1,4 Millionen wahlberechtig. 60 Prozent würden die muslimisch-demokratische AKP und damit Erdoğan wählen – nur hat der mit Demokratie nicht mehr allzu viel zu tun: „Demokratie ist ein Zug. Wenn wir angekommen sind, steigen wird aus“, soll er einmal in einer früheren Rede gesagt haben. Doch warum gehen hierzulande Zehntausende auf die Straße, um für diese defekte Demokratie und sogar für die Todesstrafe zu demonstrieren, wie nach dem Putschversuch geschehen.
„Sie gewinnen Wahlen, wenn Sie die niederen Instinkte der Menschen ansprechen und die nationalistische Trommel rühren“, bringt es Çiğdem Akyol auf den Punkt. Erdoğan bediene den Nationalstolz. Die Türkei werde durch ihn nicht mehr belächelt, sondern ernstgenommen. Als sogenannter schwarzer Türke, der aus armen und bildungsfernen Verhältnisse kommt, inszeniert er sich als ein Mann des Volkes – dabei lebt er in einem Palast mit 1200 Zimmern. Er hat aber eben auch neue Straße gebaut, das Gesundheitssystem erweitert und den Gläubigen ihr Kopftuch zurückgegeben. Deshalb werde seine Unberechenbarkeit bis an die äußersten Grenzen in Kauf genommen. Eine Besucherin sieht hier erschreckende Parallelen zur eigenen deutschen Vergangenheit.
Ein Erdoğan hört nicht auf
Und seine Kritiker? Die werden einfach mundtot gemacht. 150 türkische Journalisten sitzen zurzeit im Gefängnis: „Sie riskieren ihr Leben“, sagt Akyol. Sie selbst habe noch keine Repressalien erlebt, doch Auskunft bekommt auch sie nicht. Erdoğans Anhänger fühlen sich vorverurteilt und falsch verstanden. Ihr „Lehrmeister“, wie sie den Staatschef nennen, redet ohnehin selten mit der Auslandspresse – die verbreite sowieso nur Lügen. In der Türkei kontrolliert der Präsident daher 80 bis 90 Prozent der Medien.
Sein Ziel sei eine Gehorsamsgesellschaft und die uneingeschränkte Macht. Und Çiğdem Akyol geht davon aus, dass er diesem Vorhaben mit der Wahl am 16. April einen Schritt näher kommen wird. Denn ein Erdoğan hört nicht auf, ehe er nicht das bekommen hat, was er will.